Drei Fragen an...

Karl Haeusgen, VDMA-Präsident

Karl Haeusgen

Diese Learnings nimmt der deutsche Maschinenbau aus der Corona-Krise mit

Was sind die derzeit größten Herausforderungen für den Maschinen- und Anlagenbau?

Karl Haeusgen: Das Tempo, mit dem sich die Wirtschaft und nicht zuletzt auch der Maschinen- und Anlagenbau von der Corona-Krise erholt, darf nicht davon ablenken, dass die Pandemie ein tiefer Einschnitt für unsere Industrie war und teils immer noch ist. Die Heftigkeit dieser Einschnitte hat in vielen Bereichen zu Verwerfungen geführt, die nun Schritt für Schritt und wohl überlegt überwunden werden müssen. Zumal die Pandemie Mängel schonungslos offengelegt hat - angefangen von teils großen Abhängigkeiten von Lieferanten und Lieferländern über die Rolle der weltweiten Logistik, Folgen von Reiseeinschränkungen für personelle Einsätze von Vertrieb, Montage und Wartung bis hin zu Optimierungsbedarf im Bereich der Digitalisierung.

Zudem wurden bereits vor der Krise bekannte Probleme nicht obsolet. Im Gegenteil: Protektionistische Tendenzen im Welthandel, geänderte Anforderungen an die Mobilität und klimaneutrales Produzieren stellen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft vor immense Herausforderungen. Der Maschinen- und Anlagenbau steht dabei im Zentrum der Entwicklung. Und schließlich haben Teile der Politik nicht nur in Deutschland, sondern weltweit durch ihre zunehmende Verantwortung in der Krise einen ausgeprägteren Anspruch, Dinge zu regeln, zu gestalten, Vorgaben zu machen. 

Eine zentrale Herausforderung der nächsten Monate, wenn nicht Jahre wird es daher sein, die etwas aus dem Gleichgewicht geratene Rollenverteilung zwischen Staat und Privat auch im Sinne von wieder mehr unternehmerischer Freiheit und Wettbewerb nachzujustieren.    

Welche Learnings hat die Branche aus der Corona-Krise mitgenommen?

Keine Krise ist wie die andere. Insofern lernt man immer dazu. Nicht gänzlich neu, aber in dieser Absolutheit ungewöhnlich war, dass ein Angebotsschock der Auslöser war und lange auch blieb. Üblicherweise haben wir es mit externen Schocks zu tun, die sich über einen Nachfrageausfall ausbreiten. Wertschöpfungs- und Logistikketten rissen quasi über Nacht durch weltweite Lockdowns. Hinzu kam die Verantwortung für und damit Sorge um Wohlergehen und Gesundheit der vielen Menschen in den Betrieben. Und schließlich sind sowohl die Dynamik des konjunkturellen Einbruchs als auch die nun folgende Belebung einmalig. 

Zu den eindrucksvollsten Erkenntnissen aus der Krise zählt deshalb für mich die unheimliche Anpassungsfähigkeit der Unternehmen, der dort Verantwortung tragenden Personen und aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. In kürzester Zeit wurden nicht nur sichere Arbeitsbedingungen in der Pandemie geschaffen, sondern auch die Wertschöpfungsprozesse stabilisiert und damit die Lieferfähigkeit garantiert. Das hat nicht nur zur Stabilisierung der Unternehmen und der Volkswirtschaft beigetragen. Davon hat auch die Versorgung der Bevölkerung mit Gütern des täglichen Bedarfs und letztlich auch der Gesundheitsschutz profitiert.  

Die Lieferketten stehen momentan massiv unter Druck. Wie muss die Branche ihre Supply Chains in Zukunft aufstellen?

Die aktuellen Engpässe in der Material- und Teileversorgung haben in Breite und Dynamik außergewöhnliche Ausmaße – nicht nur im Maschinenbau. Die Ursachen dafür sind  komplex und nicht allein in der Gestaltung und Organisation der Lieferketten zu finden. Dennoch haben die letzten 18 Monate schonungslos auch Schwachstellen und Defizite in den einzelnen Unternehmen aufgedeckt, an denen es zu arbeiten gilt. Relevante Themen für die Sicherung der Materialversorgung sind Risikomanagement im Einkauf und ein kontinuierliches Monitoring der Lieferantenperformance, Optimierung und möglichst langfristige Planung und Abstimmung mit Lieferanten sowie Digitalisierung zur Steigerung der Flexibilität und Beschleunigung des Informationsflusses. 
Im Einzelfall mag aber auch die Überprüfung der Beschaffungsstrategie anstehen, im Hinblick auf die Optimierung der Lieferantenzahl, Dual Sourcing, regionale Diversifizierung von Lieferquellen oder die Notwendigkeit von Lagerhaltung. Bei all diesen Aspekten darf man jedoch nicht aus den Augen verlieren, dass für viele Unternehmen im Maschinenbau eine hohe Produktkomplexität und Teilevielfalt bei oftmals niedrigen Stückzahlen kennzeichnend ist und die Branche stark von der kundenindividuellen Gestaltung ihrer Produkte lebt – kompletter Planbarkeit und „wasserdichten“ Supply Chain-Konzepten sind damit Grenzen gesetzt.
 

Herr Haeusgen, vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Claus Wilk, Chefredakteur der Fachzeitung Produktion